Hupen, nicht bremsen.

Mein Bürofenster geht fast direkt auf eine große Kreuzung hinaus. Mitten in der Großstadt. Mitten zwischen Autobahn und urbanem Leben. Es hupt sich dort sehr vergnügt und umfangreich in allen Lebenslagen. Natürlich ist am Hupen im Prinzip nichts auszusetzen. In vielen Ländern ist es sogar ein Statement von „Lebendigkeit und Dynamik“.

Als Kind war ich mit meiner Mutter im Tessin. Die Serpentinen waren aufregend und beängstigend zugleich. Ich wusste, dass Grace Kelly - meine einzige damalige Verbindung zwischen Serpentinen und Tod - auf so einer Straße verunglückt war. Vielleicht musste sie jemandem ausweichen, der hupte, aber nicht bremste.

In diesen Ländern hat das Hupen etwas wenig Vorwurfsvolles. Es grüßt fröhlich von der anderen Seite des Bergvorsprungs oder aus dem Tunnel - mit einem zärtlichen Zeichen: „Hey, du bist nicht allein. Ich komme jetzt!“ Zauberhaft. Dabei wird ganz nebenbei geklärt, wem die Straße gehört. Alles wirkt unverkrampfter. Auch der Zustand der Autos zeigt: Hupen ist eine Lebensform. Aber hey - ich fand’s symphatisch.

Oder Paris, 1981. Ich fuhr mit meiner Mutter zum ersten Mal durch diese wunderschöne und wundersame Stadt. Wir gerieten in einen großen Kreisverkehr in der Nähe des Arc de Triomphe - ein Wahnsinn, wenn man das nicht gewöhnt ist. Alles hupte und schob in alle Richtungen. Wir drehten fünf, sechs Runden, bis meine Mutter den Mut hatte, sich entschlossen in die benötigte Abbiegung zu schieben. Ich mochte das.
Ha, und wir hatten uns noch Gedanken gemacht, ob man uns an der Grenze wegen des angeknacksten Rücklichts aufhält. Hier stürmte alles übereinander hinweg und aneinander vorbei. Wie in einem Ameisenhaufen. Ob Ameisen wohl auch hupen?

In unseren Breiten wird schon, aber weniger akustisch gehupt. Man ist ja schließlich kontrolliert.

Vorgestern habe ich in der Fußgängerpassage beobachtet, wie ein etwa sechzigjähriger Mann sich auf eine Frau mit Rennrad und eng anliegendem Sportdress stürzte, anscheinend weil sie langsam zwischen den Fußgängern hindurch fuhr. Er verfehlte sie knapp - sie war wach und schnell. Er wollte sie verletzten. Ich war geschockt.

Oder vor einer Weile: Ich war mit unserer Hündin unterwegs . Wir haben eine Leinenbefreiung. Das heißt: Sie darf sich frei in der Stadt bewegen - in unserer Begleitung versteht sich. Das Gesicht der mir entgegenkommenden Frau sagte das Gegenteil. Sie schien weder mit der Freiheit meines Hundes noch mit mir einverstanden. Sie entschied sich für die Mitte des Trottoirs und blieb unbeirrbar auf geradem Kurs. Der Gehweg ist breit genug für zwei, man müsste sich nur leicht links oder rechts halten. Dann geht es sich gut aus, wie man in Österreich sagt.
So nicht in ihrem Herzen. Sie hupte mit strengen Blicken. Hupte in Richtung Hund mit ohrenbetäubender Stille. Hupte wortlos in meine Richtung und fuhr - fast unmerklich, aber deutlich genug - ihre Schulter aus, um meine zu maßregeln. Krass. Ein Teil in mir wollte sich umdrehen und streiten. Ich atmete und ging weiter.

Ich erzählte meiner Tochter davon. Sie (heute siebzehn) erinnerte sich, dass schon als Kind regelmäßig ältere Menschen (älter als sie damals in jedem Fall) ihr den Weg versperrten, wenn sie auf dem Gehweg fuhr. Sie hupten mit Gesten, bösen Blicken, hundert Jahre alten Sprüchen. Sie hupten für ihr Recht auf freie Gehwegnutzung, auf Geradeausgehen ohne Abweichung, auf Regeltreue. Sie hupten, um zu maßregeln und Recht zu behalten. Anstatt einem einfachen Satz zu folgen, der das Leben aller leichter machen würde: „Leben und leben lassen.“ Wie schön wäre das. Wenn man sich - im besten Falle liebevoll - ausweicht, klappt mehr als man denkt. Das schont Nerven und Ressourcen.

Auch bei jungen Erwachsenen beobachte ich das häufiger. Menschen, die ihr lautloses Hupen als soziale Kompetenz verstehen. Ihr Auftrag: Sicherheit. Versteht mich nicht falsch. Ich hätte auch lieber mehr Fahrradwege im Viertel.

Ich habe einmal von einer Stadt gelesen, in der man alle Straßenschilder abgebaut hat. Nur wenige Ampeln blieben. Die Straßenverkehrsordnung galt weiter. Bemerkenswert, wie wenig passierte. Nach einer Gewöhnungsphase stellte man fest: Die Achtsamkeit stieg. Die Menschen kommunizierten wieder, fanden zu wohlwollenden Kompetenzen zurück. Der Verkehr lief nicht immer schneller, aber partnerschaftlicher. Man zündete den Menschenverstand wieder an. Kooperierte. Hatte das gemeinsame Anliegen, möglichst unbeschadet ans Ziel zu kommen. Man schaute sich wieder in die Augen.

Natürlich ist das leichter, wenn der Ort klein ist - keine Millionenstadt.
Mich nerven die vielen Menschen auch oft. Aber ich bin ja eine von ihnen.

Ich finde Hupen okay.
Wohl dosiert - ein sehr nützlicher Ton.

Aber das stilles Hupen ist ein Ausdruck eines Lebensgefühls, das ich nicht mag.
Auch nicht in mir. Verkleidet sich als Mut und kommt aus der Angst.

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Gedanken aus dem Atelier