Die Kinder werden erwachsener, so do I.
Meine große Tochter hat vier Jahre in Amsterdam studiert. Eine Veränderung, die nach den Corona-Jahren für uns alle ein erfrischender, lebendiger und gleichzeitig mutiger Schritt war. Im Masken-Abitur und in den tief irritierenden Grenzen des Zusammenlebens war viel von der Stabilität verschwunden, die jungen Menschen sonst möglichst viel Liebe zum Leben beibringt und bunte Experimente erlaubt. Amsterdam hat davon viel zurückgegeben.
Leben auf dem Campus.
Neue Freunde.
Fünf Umzüge in vier Jahren.
Das Studieren studieren.
Ein Job, den sie sehr vermisst.
Hart arbeiten.
Verzweifeln und wieder aufstehen.
Sich selbst finanzieren.
Und viel feiern.
Die Freundschaft. Die Zerstreuung. Die Jugend.
Mit einer gelben Tüte mit Brot, Käse und Heineken am Auto der Eltern zu stehen und zum ersten Mal wirklich Tschüss zu sagen, ist einschneidend.
Für alle Beteiligten.
Es hat das Fremde in ihrem Leben in vielerlei Hinsicht ergänzt.
Aufgefüllt.
Ermöglicht.
Hat ihre wundervollen Seiten wieder lebendig gemacht.
Ihre Mühe mit Sinn und Sehnsucht klarer werden lassen.
Ihre Liebe zu Toleranz und Akzeptanz.
Und ihre emotionale Wucht – diese Widersprüche zwischen Loslassen und Kontrolle.
Erwachsen werden.
Verrückt. Und zweifelnd.
Moralisch und open minded.
Manchmal konkret, manchmal verplant.
Mit einem riesigen Sack Selbstwirksamkeit im Gepäck.
Und einem Uniabschluss in der Tasche, dessen Wert sie selbst noch nicht richtig greifen kann.
Aber ihr Wert – ihr Selbstwert – ist gereift.
In jeder Faser.
Für sie selbst.
Für mich.
Für uns.
Ich liebe das.
Die Kleine ist nach der zehnten von der Schule.
Das System war für sie schon immer zu eng.
Zu klein für Ihren freien Geist, ihre Fantasie und ihren Glauben an das Gute im Menschen.
Ich bin froh, dass es sie nicht brechen konnte.
Es gab auch schöne Erlebnisse – ja.
Sie konnte viel an sich selbst entdecken und hat die Menschen studiert.
Mehr als ich je für möglich gehalten habe.
Sie ist mir eine große Lehrerin.
Sie hat schöne Anteile für andere verborgen.
Und andere hinzugewonnen.
Ihre sprachliche Begabung.
Ihr soziales Herz.
Ihre Ehrlichkeit.
Ihre Gabe, Zusammenhänge innerhalb von Millisekunden zu erkennen und sie anzubieten, damit andere sie anschauen können.
Sie hat sich auf eine Ausbildung eingelassen, die Sicherheit verspricht – die im Tun wenig davon schenkt.
Herausfordernd.
Emotional.
Körperlich und mental.
Ein Raum ohne Gleichaltrige.
Ein Raum mit oft zu wenig Freude.
Sie hätte sich manchmal auch ein einfaches
„Ich mach Abi und dann mal gucken.“
gewünscht.
Aber sie macht mit ihrer wundervollen Lebendigkeit die Fenster auf.
Lässt Luft hinein.
Sonne.
Liebe.
Ich liebe das.
Sie können das beide.
Gleichzeitig glücklich sein.
Lebendig.
Und zutiefst zweifelnd.
Und dafür nach und nach Verantwortung übernehmen.
Meine Kinder werden erwachsen, so do I.
In der Sortierung der widersprüchlichen Verantwortlichkeiten in mir.
Im Üben, Kontrolle loszulassen.
In der Ausrichtung meines Handelns nach meinen echten Gefühlen.
In meiner Klarheit mir selbst gegenüber.
In meiner Liebe zu ihnen.
Ich liebe das.
Foto von Cassidy James Blaede